Vgl. die Einbindung dieser Gedanken in eine allgemeine, umfassende Theorie und systematische Philosophie (der Wirklichkeit) und Theologie Christlicher Glaube und christliche Ethik unter Einbeziehung postmoderner Relativität, Kapitel 2.4.4.2.2..
Anti-queere Kreise entfachen gerne einen argumentativen Zweifrontenkrieg gegen Schwule und Lesben, um das erdrückende Gewicht Ihrer Behauptungen zu zeigen, und merken (ähnlich wie manche angegriffene Queers) oft nicht, dass ihre Argumente sich gegenseitig "unter Feuer nehmen", damit aufheben und neutralisieren. Damit erweist sich ihre Position jedenfalls gerade nicht als ein unvoreingenommenes, gerechtes und der Wahrheitsfindung dienendes Unternehmen.
Ein entscheidendes Kriterium, um klaren Durchblick in den Pulverdampf des anti-queeren Rundumschlages zu gewinnen, ist die Frage nach den Freiheitsmöglichkeiten bei der sexuellen Orientierung:
- Kann die große Masse der Menschen, sich ihre sexuelle Orientierung frei heraussuchen (wie man sich den Urlaubsort im Katalog heraussucht)? (Entscheidungs-Argumentation)
- Oder ist die sexuelle Orientierung für die meisten Menschen durch die Natur/Gott vorgegeben, so dass sie keine freie Handlungsoption ist, sondern Freiheit und Befreiung hier nur in Erscheinung treten können durch die Nicht-Bestrafung, Anerkennung und Gleichberechtigung dieser vorgegebenen Prägung? (naturrechtliche Argumentation)
Anti-queere, konservative Kreise kombinieren - wie gesagt - gerne beide sich ausschließenden Argumentationen. Ein jüngeres Paradebeispiel sind die "Erwägungen zu den Entwürfen einer rechtlichen Anerkennung der Lebensgemeinschaften zwischen homosexuellen Personen" (1) der römisch-katholischen Kongregation für die Glaubenslehre, die im Jahre 2003 vom damaligen Kardinal Ratzinger mitherausgegeben wurden. Ähnlich widersprüchliche Rundumschläge finden sich aber auch in konservativen evangelischen Gruppen und genauso in nicht-christlichen anti-queeren Kreisen.
Die folgende, allgemeingültige Analyse und Dekonstruktion setzt jeweils bei den Formulierungen der vatikanischen "Erwägungen" an. Im Jahre 2003 hatte Michael Brinkschröder kurz nach dem Erscheinen der "Erwägungen" die 2 unterschiedlichen Argumentationslinien als "teleologische Argumentation"mentation genannt) und als "naturrechtliche Argumentation" (2) (von mir Entscheidungs-Argumentation bezeichnet. Diese Analyse der Form der Argumente soll nun hier fortgeführt werden, indem ihr Inhalt auf seinen logischen Gehalt und seine Widersprüchlichkeit überprüft wird.
Die Entscheidungs-Argumentationslinie finden wir in Aussagen, dass Homosexualität ein "beunruhigendes moralisches (...) Phänomen"(3) sei, dass dadurch "das Gewebe der öffentlichen Moral (..) in Gefahr gerät"(4) , dass der Staat (natürlich durch Gesetze und andere Maßnahmen) "das Phänomen in Grenzen (..) halten"(5) soll und alles verhindern soll, "was zur Ausbreitung des Phänomens beitragen würde."(6) In diesem Sinne müsse verhindert werden, "bei den jungen Generationen das Verständnis und die Bewertung der Verhaltensweisen zu verändern."(7) Gesetze, die Schwulen und Lesben weitere Rechte geben, hätten "negative Auswirkungen auf das Gebiet (...) der öffentlichen Moral."(8)
Die naturrechtliche Argumentationslinie finden wir im Vatikanpapier in der Behauptung, dass "die homosexuellen Beziehungen gegen das natürliche Sittengesetz verstoßen"(9), dass es sich um eine "Anomalie"(10) handelt, für die "nicht (...) alle (...) persönlich (..) verantwortlich"(11) sind, und dass es "ein abwegiges Verhalten"(12) sei.
Die naturrechtliche Argumentation homophober Menschen beschreibt Homosexualität als etwas Unnatürliches, Seltenes, dem Menschen Fremdes, das außerhalb des Horizontes und der Handlungsoptionen der allermeisten Menschen liegt. Man könnte da z.B. an das Phänomen siamesischer Zwillinge oder eines blindgeborenen Menschen denken. Damit würde es sich bei Homosexualität um eine vorreflexive Gegebenheit handeln, bei der der einzelne keine Handlungsfreiheit hat. Dann entfallen aber auch alle moralischen überlegungen, weil der einzelne gar keine Entscheidungsfreiheit im Blick auf seine sexuelle Orientierung hat.
Hier tritt nun in vollständigen Widerspruch die Entscheidungs-Argumentationslinie. Sie spricht Homosexualität ausdrücklich als moralische Frage an, also als Frage der Entscheidungsfreiheit. All die weiteren oben zitierten Bemerkungen dieser Argumentationslinie zeigen, dass man bei entsprechender gesetzlicher Liberalisierung (hier immer speziell auf Lebenspartnerschaftsgesetz oder die schwul-lesbische Ehe bezogen) eine Vermehrung von Homosexualität unter den Bürgern vermutet. Indem man verlangt, Gesetze sollten "das Phänomen in Grenzen halten", wird deutlich, dass man beabsichtigt, eine natürliche Anlage nicht weniger Menschen durch Maßnahmen des Staates und der Gesellschaft (wozu ja auch Mobbing gegen Minderheiten sehr "erfolgreich" beiträgt) zu unterdrücken. Es wird also deutlich: Die Entscheidungs-Argumentationslinie will ein Verhalten durch staatliche Maßnahmen so weit wie möglich verhindern, was logisch nur Sinn macht, wenn es eine - natürliche - Handlungsoption für nicht wenige Menschen darstellt. Dieses aber widerspricht diametral der ersten, naturrechtlichen Argumentation, die von Homosexualität als etwas Unnatürlichem, einer Abweichung von der Natur ausgeht, die der überwiegenden Mehrheit der Menschen natürlicherweise fremd ist und für sie keine Handlungsoption darstellt.
Dass hier zwei sich wiedersprechende Argumentationslinien verwendet werden, zeigt, dass es den Verfassern gar nicht um eine sachliche Auseinandersetzung über die Homosexualität geht, sondern um ein ideologiegeleitetes Interesse, Homosexualität zu bekämpfen, wobei dann alle greifbaren Argumente gebündelt werden - ohne Rücksicht darauf, ob sie sich widersprechen oder nicht. Damit widerlegt sich die vielfältige Argumentation selbst.
Die homophobe Seite muss sich schon entscheiden. Vertritt sie die Entscheidungs-Argumentationslinie, dann setzt das voraus, dass Menschen eine natürlich vorgegebene Wahlmöglichkeit zur Homosexualität haben. Also kann diese Wahlmöglichkeit nicht widernatürlich sein. Da das Vatikan-Papier selbst bei weiterer gesetzlicher Gleichstellung (z.B. dem Lebenspartnerschaftsgesetz) von einer weiteren (dem Wortsinn nach sogar "starken") Zunahme von Homosexualität ausgeht (13), würde dies einen Anteil von erheblich mehr als den jetzigen 5 Prozent Homosexuellen bedeuten. Ein zweistelliger Prozentsatz eines Verhaltens, das andere nicht schädigt, kann schon von der arithmetischen Seite her nicht als widernatürlich bezeichnet werden, es sei denn, man vertritt einen ideologischen Begriff des "Natürlichen"(14).
Der homophobe Kritiker muss bei dieser Argumentationslinie schon deutlich sagen, was er beabsichtigt, nämlich eine natürliche Anlage vieler Menschen zu dirigieren und zu beeinflussen und ihnen rechtliche Erleichterungen oder die Gleichstellung zu verweigern, obwohl sie niemand anderen schädigen (nur dieses wäre ein staatlicher Grund gesetzlich mit Strafe zu reagieren, wie z.B, bei Mord, Diebstahl, Beleidigung usw.). Damit wird diese Argumentationslinie, von Homogegner vorgetragen, zu einem typischen Verhalten restriktiver, autoritärer, unterdrückender, freiheitseinschränkender kirchlicher Lehre und Politik. Sie beruht auf der Grundlage, dass einige sagen, sie wollten andere durch staatliche Gesetze in ihrem (sexuellen) Handeln einschränken, weil sie besser als diese anderen selbst wüssten, was für sie gut sei. Die Verfassern des Vatikan-Papiers bestimmen damit Kirche nicht als Freiheits- und Lebensraum, sondern als ein die natürlichen Anlagen einschränkendes und damit durchaus auch zwanghaftes Institut.
Wenn der römisch-katholische Passauer Bischof Stefan Oster behauptet, "Sexualität ... verändert sich, bei jedem! ... Auch Varianten sexueller Orientierung entstehen. Auch eine homosexuelle Neigung entsteht, sie wird und ist nicht statisch bloß gegeben."(15), dann sagt er damit, dass auch die heterosexuelle Orientierung nicht jedem Menschen von der Natur her innewohnt. Er sagt, dass Homosexualitiät "geworden" ist, sich entwickelt hat - durch Umstände der persönlichen Entscheidung und der Umwelt. Das bedeutet aber, dass auch Heterosexualität sich nicht natürlich - unabhängig von den Umständen - entwickelt, sondern abhängig ist von Entscheidungen und Umständen, die eben andere sind als bei denen, die homosexuell wurden.
Emanzipatorische Ethik und Befreiungstheologie muss hier nicht unbedingt die Entscheidungs-Argumentationslinie bekämpfen, aber zunächst einmal alle Implikationen der homophoben Argumentation aufdecken und dann vor allem die homophobe Folgerung bekämpfen, man müsse diese Entscheidungsfreiheit staatlich beeinflussen.
Will ich aber - mit der Naturrechts-Argumentationslinie Homosexualität als etwas Unnatürliches bekämpfen, dann brauche ich keine staatliche homophobe Gesetzgebung, weil diese sexuelle Orientierung vielen fremd ist. Aus emanzipatorischer und befreiungstheologischer Sicht sind homophobe Gesetze in diesem Fall aber besonders deshalb abzulehnen, weil sie Menschen für ihre sexuelle Orientierung bestrafen, die diese nicht ändern können, aber gleichzeitig anderen keinerlei Leid zufügen.
Schon Aristoteles wies darauf hin, dass es bei Werten und beim Guten nicht um theoretische Ideale und Ideen geht, sondern um Maßstäbe, die für den Menschen praktikabel sind: "in Hinblick auf die Ideen: ... das Gute ... Es ist offensichtlich, dass der Mensch dies weder praktisch durchführen noch sich aneignen kann. Nun suchen wir aber genau ein solches" (praktikables Gutes). ("περὶ τῆς ἰδέας· ...ἀγαθὸν ... δῆλον ὡς οὐκ ἂν εἴη πρακτὸν οὐδὲ κτητὸν ἀνθρώπω· νῦν δὲ τοιοῦτόν τι ζητεῖται."(16)
Durch das Vatikanpapier werden Menschen zu permanenter Selbstaggression und Selbstzwang angehalten, eine starke Form von Unterdrückung (17). Hiergegen fällt einem sofort das Jesuswort ein, das kirchliches Handeln bestimmen sollte: "Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. (...) Denn mein Joch drückt nicht, und meine Last ist leicht." (Mt 11,28+30) Manche halten sich nicht an diesen Zwang, erleben dann aber trotzdem Zwang und Unterdrückung, nämlich in Form der Strafe. Hier kann Befreiung nur bedeuten, alle staatlichen Zwänge aufzuheben, die einen Menschen dazu bringen, gegen sich selbst da zu kämpfen, wo er niemandem anderen etwas zu Leide tut. Umgekehrt ist es dann staatliche Aufgabe, jedem gesetzlichen Schutz bei der Entfaltung seiner Minderheitenhaltung zu geben.
Nun hat sich die argumentative Widersprüchlichkeit und tiefe ethische Verwerflichkeit des Vatikanpapiers gezeigt, insofern es sich gegen gesetzliche Erleichterungen von sexuellen Minderheiten ausspricht, die es ohnehin schon schwer haben.
Nach dieser Kritik und Dekonstruktion möchte ich nun eine neue, positive Einschätzung von Homosexualität formulieren und die Frage zu beantworten versuchen, welche der beiden Argumentationslinien im positiven Sinne der Wahrheit näher kommt. Ich vertrete grundsätzlich die naturrechtliche Argumentation, dass also queere, von der Mehrheit abweichende sexuelle Orientierung natürlich vorgegeben ist, wobei "natürlich vorgegeben" hier "vorreflexiv" heißt und nicht unbedingt "von Geburt an", also nicht auf einem bewussten Willensakt beruht, sondern genetisch veranlagt ist oder in frühkindlicher Zeit erworben wurde. Die starke, wenn auch vielleicht nicht ausschließliche genetische Ursache wird dadurch belegt, dass "in der Verwandtschaft der 76 untersuchten homosexuellen Männer der Anteil der Homosexuellen deutlich höher ist als in der Allgemeinbevölkerung"(18). "Ist ein eineiiger Zwilling homosexuell, so ist der zweite mit etwa 50 Prozent Wahrscheinlichkeit auch homosexuell. Bei zweieiigen Zwillingen liegt diese übereinstimmung nur bei 15 Prozent."(19)
Also "wiesen eineiige, gemeinsam
oder getrennt aufgezogene Zwillinge eine überdurchschnittliche Konkordanz
hinsichtlich der (homo-)sexuellen Orientierung auf, d. h. diese wurde in
nicht unerheblichem Maße (statistisch) durch die genetische Gemeinsamkeit
erklärt."(20) Zusammenfassend stellt ein Sexualwissenschaftler im Jahr 2001
fest: "Der sexualmedizinische Forschungsstand erlaubt folgendes vorläufiges
Fazit: 1. Die sexuelle Orientierung ist keine Frage der Wahl."(21) Und die Forschungslage im Jahr 2015 fasst Professor Axel Meyer, Evolutionsbiologe, so
zusammen: "Nicht nur Zwillingsstudien zeigen, dass
es eine relativ hohe Erblichkeit von Homosexualität gibt."(22) - "daraus ergibt sich, dass man Homosexualität nicht
wegerziehen kann"(23). Ein katholischer Theologieprofessor zieht 2021 ein ähnliches Resümee und kritisiert die traditionelle katholische Lehre
in diesem Punkt: Es kann "nach allen wissenschaftlichen Befunden kein Zweifel mehr an der Existenz einer biologischen Prädisposition der sexuellen Orientierung - sei sie nun
heterosexuell oder homosexuell - bestehen".(24)
Anders als das
Vatikanpapier kann jeder Jude und jeder Christ mit Ps 139,13–14a Gott danken,
dass jeder Mensch vor der Geburt auf seine Weise wunderbar gemacht
ist: »Denn du hast … mich gewoben im Schoß meiner Mutter. Ich danke dir,
dass du mich so wunderbar gestaltet hast."
Ein weiterer Beleg für eine starke genetisch-vorgeburtliche Ursache von Homosexualität, ja queerer Sexualprägung ist die Beobachtung unter vielen Tieren, die traditionell in der Sprache der Biologen verschleiert wurde.
"Bei den Clownfischen (...) wechseln (..) Männchen das Geschlecht."(25) Passend dazu fand man in München an verschiedenen Plakatwänden
und -säulen im April 2016 ein Werbeplakat des Tierparks Hellabrunn mit einem Clownfisch und
dem Text: " 'Nemo? ist inzwischen eine Frau!' Clownfische werden als Männchen geboren und können während ihres Lebens auch zu Weibchen werden. Komm und entdecke
weitere überraschende Fakten in Hellabrunn. - Die Vielfalt des Lebens erwartet Dich." - "Für den Anemonenfisch ist es der natürliche Gang der Dinge: als Männchen geboren, verliebt, verpaart, verwitwet, zum Weibchen
gewandelt". (Leon Lindenberger: Tatsächlich Liebe?, SZ-Artikel vom 14.2.2024, S. R 3 (aus dem Tierpark Hellabrunn, München))
So ist eine besonders hohe homosexuelle Aktivität unter männlichen Giraffen beobachtet worden, bei einer Beobachtungsreihe machten die homosexuellen Akte 94% der
gesamten sexuellen Aktivitäten aus (26), so dass heterosexuelles Verhalten bei dieser Tierart "quite rare"(27) ist. "African Elephant males
in companionships are also exclusively same-sex oriented"(28). Dennoch ist der Erhalt der Art zu keinem Zeitpunkt gefährdet gewesen.
Die Beobachtungen aus dem Tierreich widerlegen allerdings die negative Wertung dieser natürlichen Anlage im Vatikanpapier
als "Anomalie" und "abwegigem Verhalten"(29), denn es ist ein natürliches, neutrales Minderheitenverhalten, das das überleben
einer Art keineswegs verhindert.
Auf diese naturrechtliche Argumentationslinie des Vatikanpapiers setze ich einen Schwerpunkt, allerdings ohne die negative Bewertung des Papiers mitzuvollziehen.
Die Entscheidungs-Argumentationslinie enthält aber auch zwei Wahrheitsmomente. Zum einen gibt es wirklich bisexuelle Menschen, die natürlich diese Wahlmöglichkeit haben. Zum anderen stimmt die Annahme des Vatikanpapiers, dass sich durch liberalere, schwulenfreundliche Gesetze, die z.B. eine schwul-lesbische Lebenspartnerschaft unterstützen, die Häufigkeit gelebter Homosexualität zunimmt (30). Das belegt aber nicht, dass alle Menschen ihre sexuelle Orientierung frei wählen können. Es zeigt nur, dass bei Gesetzen, die Homosexualität unterdrücken, und bei einer Gesetzeslage, die Homosexualität nicht als gleichberechtigt ansieht und dann meist mit homophobem gesellschaftlichem Druck verbunden ist, eine Anzahl Homosexueller sich selbst in ihrer natürlichen, festgelegten schwulen Orientierung bekämpft und sie nicht auslebt. Erst eine vollkommene gesetzliche Gleichberechtigung, also vollkommene Befreiung und Emanzipation von Schwulen, Lesben, Queers, gibt faire Möglichkeiten, zu erkennen, wieweit Homosexualität natürlich verbreitet ist.
Nun kann theologisch die Unterdrückung der in der Natur des Menschen vorhandenen Homosexualität damit begründet werden, dass der theologische Naturbegriff, das natürliche Sittengesetz (31), nicht mit der empirischen Natur übereinstimmt, sondern eine andere Dimension bildet, dass also Homosexualität beim Menschen, auch wenn sie empirisch gar nicht so selten vorkommt, doch gegen die Natur (Gottes) im theologischen Sinne verstößt. Diese theologisch-philosophische Argumentation würde aber Gott, seine Wirklichkeit als das im Hegelschen Sinne "schlechte Unendliche" erweisen, dass sich im Gegensatz zur endlichen empirischen Wirklichkeit versteht und diese nicht ernstnimmt. Dies würde auch einer doketischen Christologie entsprechen, insofern Gott in Jesus Christus nicht wirklich Mensch geworden ist und das Endlich-Weltlich-Menschliche nicht wirklich von Gott und der von ihm abgeleiteten Ethik an- und aufgenommen wäre. Dabei ist bemerkenswert, dass schon Aristoteles von einer anlagebedingten Homosexualität ausgeht, also naturrechtlich argumentiert, wobei sein Naturbegriff natürlich die empirische Natur meint: "... die Liebesgefühle zu Männern: Für die einen treten sie durch die Natur auf, ... . Diejenigen, bei denen die Natur (φύσις, physis) die Ursache ist, wird niemand 'unbeherrscht' nennen." ( "ἡ τῶν ἀφροδισίων τοῖς ἄρρεσιν· τοῖς μὲν γὰρ φύσει ... συμβαίνουσιν, ... ὅσοις μὲν οὖν φύσις αἰτία, τούτους μὲν οὐδεὶς ἄν εἴπειν ἀκρατεῖς"(32). Dass ein katholisches Papier offensichtlich die Dimension der empirischen Natur und eines realisierbaren statt eines idealen Guten (33) ausblendet, zeigt, dass trotz der Aristoteles-Rezeption schon durch Thomas von Aquin, Aristoteles' Gedanken doch bis heute oftmals keinen Eingang in die vatikanische Theologie gefunden haben.
Schließlich wäre noch zu fragen, welchen praktischen, dem Gebot der Nächstenliebe entsprechenden Sinn eine gesetzliche Benachteiligung einer sexuellen Minderheit macht, die auf einem theologisch-nichtempirischen Naturbegriff beruht. Es würde sowieso nur für Bisexuelle irgendeinen Sinn haben. Aber zur Erreichung des positiven, praktischen Effektes, dass mehr Kinder gezeugt werden, ist keine Änderung der Homosexuellen-Gesetzgebung erforderlich, sondern er kann durch ausreichende finanzielle Hilfen für heterosexuelle Paare erzielt werden, die sich nur aus finanziellen Gründen nicht alle Kinderwünsche erfüllen. Und selbst bei Bisexuellen liegt zumeist nicht eine ausgewogene Wahlfreiheit vor, sondern oft neigt sich ihre Orientierung mehr in die homo- oder heterosexuelle Richtung, weshalb auch hier wieder staatlicher Druck (auch nur durch die Vorenthaltung eines Lebenspartnerschaftsgesetzes) ethisch problematisch wäre.
So sollte dieser Artikel dazu helfen - auch gemäß der Aussage Jesu, dass der Sabbat um des Menschen willen da ist und nicht der Mensch um des Sabbat willen (Mk 2,28), den Hindernissen für eine befreite Gesellschaft und Kirche entgegenzutreten, wie sie konservativ-christlich homophobe Einstellungen beinhalten, z.B. das behandelte Vatikanpapier. (Dazu die katholische, niederbayrische CSU-Bundestagsabgeordnete Gudrun Zollner, die einen schwulen Sohn hat: "Was da aus dem Vatikan zur Homo-Ehe kommt, finde ich fürchterlich. Das kränkt mich als Christin."(34)) Dazu war es zunächst erforderlich, die homophobe Argumentationsweise zu dekonstruieren und damit zu destruieren. Darauf aufbauend soll der Artikel dazu beitragen, voranzukommen hin zu einer befreiten Gesellschaft, in der Menschen mit ihren natürlich festgelegten sexuellen Minderheitenorientierungen nicht unterdrückt und nicht benachteiligt weden, sondern es als Aufgabe politischer Ethik angesehen wird, den Beitrag dieser Menschen zu einer menschlichen, liebevollen Gesellschaft, z.B. durch ein Lebenspartnerschaftsgesetz, zu fördern.
In dieser Hinsicht sind die Seelsorgeberichte katholischer Pfarrer aus dem Jahre 1899 ermutigend, die vom Leid ihrer homosexuellen Gemeindeglieder aufgrund der Homophobie der damaligen Gesellschaft berichten und die damals schon aufgeklärter, lebensnaher und einfühlsamer waren als das Vatikanpapier mehr als 100 Jahre später: Artikel über die anonyme Umfrage unter katholischen Pfarrern.
Leider hat die hier dekonstruierte Schrift aus dem Jahr 2003 noch keine Revision erfahren, wie Sätze aus einem von derselben Glaubenskongregation fast 20 Jahre danach am 22.2.2021 herausgegebenen, kürzeren "Responsum ad dubium der Kongregation für die Glaubenslehre über die Segnung von Verbindungen von Personen gleichen Geschlechts" zeigen: "Aus diesem Grund ist es nicht erlaubt, Beziehungen oder selbst stabilen Partnerschaften einen Segen zu erteilen, .... wie dies bei Verbindungen von Personen gleichen Geschlechts der Fall ist. ... Verbindung .., die nicht auf den Plan des Schöpfers hingeordnet ist." (35)
Hier findet sich eine grundsätzliche, umfassende Abhandlung zum Thema "Homosexualität und christlicher Glaube": https://homochrist.farbenfroh3.de
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Stand: 17. Oktober 2022
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